Institut für integrale Gesprächs- und Focusingtherapie

Integrale Anmerkungen in komplexen Zeiten

Artikel von Rainer Eggebrecht

Ein neuer Begriff von Globalität ist im Entstehen: ein tiefes Gefühl der Zusammengehörigkeit mit allen Wesen und die Kooperation mit allen Mitgeschöpfen, sowie  die Anerkennung  kosmischer, ethischer und ökologischer Hintergrundbedingungen. Immer mehr Menschen wollen aussteigen, einen Sinn finden und für sich und ihre Kinder eine lebenswerte Zukunft aufbauen.

Es gibt Dimensionen der Wahrheit, die von den Naturwissenschaften nicht berührt werden können. Daher müssen wir neben naturwissenschaftlich-quantitativen Methoden zunehmend auch qualitative Sichtweisen mitberücksichtigen. Wir sollten beide Perspektiven gleichzeitig wertschätzen.
Wenn wir eine gegenseitige Wechselwirkung zulassen, dann verwerfen wir nicht die Wissenschaft an sich, sondern erweitern ihre Perspektive und erhalten so ein besseres Verständnis der gesamten Wirklichkeit. Damit können wir unserem objektiven Geist, der Daten will, Genüge tun und zugleich unsere subjektiven Erfahrungen von Einheit und ganzheitlicher Wahrnehmung der Wirklichkeit integrieren.

Durch zunehmende Schulung eines Empfindens von Mitgefühl und Verbundenheit mit unseren Mitmenschen, der Natur und dem Kosmos – ohne irgendeine Form von doktrinärer Ideologie – könnten wir bereits in jungen Jahren in der Erziehung und in den Schulen beginnen, eine Haltung zu kreieren, die beide Seiten dieses Verständnisses, das materialistische und das post-materialistische, auf eine neue, ganzheitliche Weise integriert.

In unseren überinformativen Zeiten müssen wir stärker unterscheiden lernen, welches Wissen uns  bereichert und welches uns eher zerstreut oder auf Abwege bringt.
Denn der Jahrmarkt psycho-spiritueller Sinnangebote ist dank moderner Medien überwältigend. Der mystische Schriftsteller Gustav Meyrink hat schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben: „Auf einen Engel kommen neunundneunzig Versucher im Gewande des Engels“. (auf ein wirklich hilfreiches psychologisches oder spirituelles Angebot kommen unzählige den eigenen Vorteil vermarktende Sinnangebote).

Die psychologische Forschung hat zudem nachgewiesen, dass wir achtmal stärker auf Bedrohungen reagieren als auf positive Nachrichten! In modernen Massenmedien werden daher vorwiegend katastrophale Infos veröffentlicht.

So bezeichnet das Wort „Katastrophe“ ursprünglich im Griechischen die gefährliche Kurve bei antiken Wagenrennen, an der so mancher Wagenlenker sein Gefährt zum Kippen brachte. Das Wort ist damit aber keine Aufforderung zum Stillstand oder gar zum Rückwärtsgang, sondern vielmehr eine Aufforderung zu Achtsamkeit beim Richtungswechsel.

Genau das findet derzeit statt und steht uns weiter bevor. Ziel einer Krise ist es, Vorstellungen von Wirklichkeit, deren Zeit abgelaufen ist, durch ein komplexeres, integrales Verständnis abzulösen. Hierzu brauchen wir neben logischem Denken auch Gefühle, Erfahrungswissen, Bilder, Körperempfindungen sowie Intuition in einem tieferen Sinne.

Authentisch – sinnvolles Bewusstsein

Unterschiedliche Psychologierichtungen, Religionen und spirituelle Schulen lehren die Suche nach gültigen Wahrheiten, indem sie uns  Methoden und Techniken, Gebote und religiösen Hilfestellungen an die Hand geben. Diese können sich aber auch zu dogmatischen Wahrheiten verfestigen, die dann als konsumierende Produkte vermarktet werden.
Alexander Poraj, spiritueller Lehrer in der Nachfolge von Willigis Jäger am Benediktushof, veranschaulicht sehr schön, wie wir uns Wahrheit oftmals als zu konsumierendes Produkt aneignen wollen:
Das ist, als würden wir an einem sehr schönen kristallenen Bergsee eine Bude aufmachen und Mineralwasser anbieten. Wir Menschen baden in diesem See und haben dann Durst. Aber wir kommen nicht auf die Idee, dass wir in dem, was  eigentlich den Durst stillen könnte, schon baden. Das muss jetzt besonders verpackt sein, als „Mineralwasser“, mit einem Etikett.
Denn der zunehmende Durst nach Wahrheit  wird umso stärker, je mehr unsere Verbundenheit mit dem Elixier des Lebens schwindet. Zwar brauchen wir auch hilfreiche Anregungen für tiefere Wahrnehmungen – aber wenn eine Methode behauptet, sie verkaufe das einzig richtige Mineralwasser der Welt und ihre Anhänger glauben, sie kaufen im allerbesten Mineralwasserladen, dann übersieht man leicht, dass alle Mineralwasserläden aus
einer identischen Quelle schöpfen. Und so entstehen immer größere Mineralwasser-Buden mit  Konfessionen und fest verpackter Wahrheit.

Achtsamkeit

Die Begriffe Achtsamkeit und Meditation sind heute im Mainstream angekommen – durchaus positiv -, doch leider auch manchmal  mit Schattenseiten behaftet. Meditative Techniken werden auch verwendet, um „selbstwirksam optimiert“ in Verteilungskämpfen noch geschickter nach vorne zu kommen.
Stressreduktions- und „Spirituellness“-Trainings erhöhen in der Logik des Machtdenkens auch Karriere-Chancen. Unsere von der Naturwissenschaft geprägte Welt basiert auf einer Grundhaltung, die vorwiegend logische Erklärungen von Wirklichkeit berücksichtigt. Vielleicht erleben viele auch deswegen diese seltsame Verlorenheit in der Welt, die unsere Kultur seit Jahrzehnten prägt. In unserer postmodernen Kultur empfinden viele eine gewisse kosmische Heimatlosigkeit, ohne Zugehörigkeit zu tieferen Sinnhorizonten.
Wirkliche Achtsamkeit führt hingegen dazu, dass man wach und achtsam in allen Lebenslagen ist. Psychologische Erkenntnisse, meditative Versunkenheit mit überraschenden, oft atemberaubenden Momenten sind dann zwar weiterhin spannende Erfahrungen, denen aber keine so herausragende Bedeutung mehr zukommt, weil im Innersten eine beständige tiefe Ruhe und innere Klarheit erfahren wird.

Digitale Kommunikation: Risiken und Chancen 

Heute ist das Internet die dominierende Kommunikationsform in (post)modernen Gesellschaften. Das Internet begann in den 90er-Jahren – mit schwer verständlichen Computercodes (Web 1). Die Technik verfeinerte sich dann zusehends und  konsumfreundlichere Oberflächen machten digitale Kommunikation immer einfacher.
War zu Beginn Amazon noch eine kleine Plattform für Bücherfreunde und half Facebook  Studenten der Harvard-Universität, Beziehungen zu knüpfen und sich zu verabreden, erkannten einige Großunternehmer rasch, dass man das nun immer beliebtere Internet in eine riesige Geldmaschine verwandeln kann
(Web 2). Doch wie wir alle als Gesellschaft besser zusammenleben könnten – dafür bietet das marktwirtschaftliche Dogma des Netzes bis heute keine wirklichen Lösungsansätze.

In jüngster Zeit wächst die Kritik am digitalen Universalismus immer mehr und es entstehen von großen Internetgiganten unabhängige eigenständige Räume und Netzwerke – sogenannte DAOs (Dezentrale Autonome Organisationen). Diese ermöglichen neue Formen der Selbstorganisation mit horizontalen statt mit vertikalen Führungsstrukturen (Web 3).
Offenes integrales Denken lässt sich zwar nicht einfach in eine Technologie hineincodieren, aber es kreiert immer mehr Räume und Strukturen, die von innen gelebt und mit Bewusstsein gefüllt werden können. Das derzeit rasch wachsende Web 3 verstärkt als äußere technologische Form somit ein neues, gemeinschaftliches Bewusstsein, das eine engagiertere Verbundenheit erlebbar macht und zu einem sozialen und gesellschaftlich gerechteren Handeln führen kann.