Institut für integrale Gesprächs- und Focusingtherapie

Achtsam – humanistische Grundhaltungen

Artikel von Rainer Eggebrecht

Authentisch sein.

Ein authentischer Mensch steht zu seinen Stärken und Schwächen und handelt im Einklang mit sich selbst. Empathische Wahrnehmung ermöglicht es, uns selbst, andere und unsere (globale) Kultur in ihrer tieferen Sinnhaftigkeit wahrzunehmen. So können neue Bedeutungen, Bilder und Gefühle entstehen, die subtiler sind als alle begrifflichen Strategien, die wir normalerweise verwenden.
Der alternative Nobelpreisträger Hans-Peter Dürr antwortete in einem Arbeitskreis in München auf meine Frage, wie Quantenphysik zu menschlicher Sinnhaftigkeit steht: „Neurobiologen untersuchen nur den „Drucker“ – der Hintergrund ist in einer ganz anderen Sprache geschrieben – die wir meist übersehen. Die Wirklichkeit ist noch unendlich viel komplexer als selbst jede quanten-physikalische Erklärung.“ 

Präsenz bedeutet im Focusing, den jetzigen Moment aktiv zu gestalten und bewusst, authentisch und offen für neue Erfahrungen zu bleiben. Wir beschäftigen uns jedoch sehr oft mit Zukünftigem und Vergangenem. Durch dieses vergangenheits- oder zukunftslastige Denken bleibt für den gegenwärtigen Moment zu wenig Raum.

Loslassen (inneren Freiraum schaffen) ist ein wichtiger Schritt in Richtung Freiheit und innerem Frieden. Schon Buddha sagte: “Lerne loszulassen, um zu innerem Frieden und zu tiefer Ruhe im eigenen Selbst zu gelangen“.
Am großen Tor einer Moschee in Sikri (Nordindien) steht (seit 1569) folgende Inschrift: „Jesus, der Sohn Marias, sagte: Die Welt ist eine Brücke, gehe hinüber, aber baue kein Haus darauf.“. Doch wir bauen ganze Städte, die es uns erschweren, die Brücke zu passieren und die uns so sehr ablenken und in Anspruch nehmen, dass wir der Illusion erliegen, die Brücke selbst sei das Ziel.
Die Frage ist, wofür es sich zu leben lohnt, ohne dauernd an Geld, Besitz und Erfolg zu denken. Glück kann nie über Leistung erarbeitet werden – als Ergebnis sinnvollen Lebens kann es uns geschenkt werden.

Innerer Frieden ist ein Zulassen – kein aktives Wollen. Innerer Frieden ist eine Kraft, selbst dann, wenn wir müde und verwirrt sind, uns ungerecht behandelt fühlen oder von allem gerade die Nase voll haben. Nur so können wir fried-voll und wirkmächtig handeln.

Integrale Psychologie – ein ganzheitlicher Ansatz

In einer immer komplexer werdenden Welt benötigen wir  zunehmend methoden-übergreifende Kompetenzen, um mit all den überbordenden Wissens- und Sinnangeboten  kongruenter, zukunftsoffener und sinnvermittelnder umzugehen.

Wir befinden uns in einer spannenden Übergangszeit. Unser bisheriges Denken stößt an Grenzen. Viele neue Konzepte und Methoden können wir anwenden und kombinieren, wenn wir sensibel bleiben, dass Techniken immer nur Möglichkeiten darstellen. Die Person des Klienten bleibt jedoch das Wichtigste. Diagnosen und Konzepte sind immer in Beziehungen eingebunden. Menschliches Leben ist viel komplizierter als alle unsere psychologischen Theorien zusammen – daher ist personzentriert-integrale Wahrnehmung so wichtig.
Integrale Psychologie schult ein „stimmiges“ Fühlen, ein „In-Berührung-Sein-mit…“, wodurch unmittelbar neue Wahrnehmungen entstehen können.
Rogers: „Was immer wir sonst tun, wir wollen jeden Moment den Kontakt mit dem Klienten aufrechterhalten und ihm bei allem, was in ihm hervorkommt, echte Gesellschaft leisten“.
Logische Konzepte sind durchaus wertvoll – wir benötigen sie in vielen Lebens-bereichen. Wissenschaft und rationale Logik ändern und verbessern unser Leben. Dies ist durchaus zu respektieren. Doch dann sollten wir das, was wir logisch herausgefunden haben, wieder lebendig „atmen“ lassen, es ganzheitlich, implizit mit Körper, Geist und Seele wahrnehmen.

Dieser Aktualisierungstendenz sollte man viel Raum geben. Das heißt, dass ein großer Respekt für das an den Tag gelegt wird, was sich von innen heraus entfalten kann. Integrale Therapeuten entscheiden sich für eine offene Selbsterforschung, deren Form und Richtung in hohem Maße vom Klienten selbst bestimmt wird. Holistisches, ganzheitliches Denken intensiviert und ermöglicht  eine wechselseitige Verschränkung von Lebensbereichen, um die verschiedene Ebenen des Seins in einer größeren Perspektive neu zusammenzuführen.

Wir lassen den Klienten also selbst herausfinden, was für ihn der stimmige
nächste Erkenntnisschritt ist – und auch, ob und wie eine bestimmte Erfahrung für ihn psychologisch oder spirituell bedeutsam wird.

Integrale Sichtweisen zur Spiritualität

Spirituell ganzheitliches Erfahren lässt sich inhaltlich nicht exakt fixieren.
Pater Anselm Grün betont, dass Spiritualität nicht ohne Psychologie existieren kann:
 „Unsere inneren Räume müssen lebensfähig sein – nur dann können wir gut in den Raum unterhalb der Leidenschaften kommen und ohne allzu dunkle psychische Schatten eine tiefere Klarheit und Reinheit entdecken.“.
Um Spiritualität tief zu erfahren, müssen wir zu Ehrfurcht fähig sein, staunen und uns wundern können.
Mit diesen seelischen Regungen tut sich unsere Zeit nicht leicht. Denn Spiritualität ist ein existenzieller, kein kognitiver Begriff. Das macht ihn schwerer fassbar und auch leicht missbrauchbar. Wir sollten daher kontemplative Techniken auf umfassende Weise in ethisch-weltoffene Kontexte einbinden, um die Werte und das Handeln unserer materialistischen Kultur nachhaltig und zukunftsoffen zu verändern.
Integrale Spiritualität bezieht sich auf die Einheit von Körper, Geist und Seele, auf die Frage, wie wir unser eigenes Leben realistisch leben – mit allen Eigenschaften, unserem individuellen Sosein und Bewusstsein. Eine weltoffene Akzeptanz der verschiedenen Religionen wäre hierfür ebenfalls von Bedeutung.

Zitat: Mein Herz ist offen für jede Form, es ist eine Weide für Gazellen, ein Kloster für christliche Mönche, ein Götzentempel, die Tafeln der Thora und das Buch des Koran. Ich übe mich in der Religion der Liebe, in welcher Richtung auch immer die Karawane zieht, die Religion der Liebe wird mein Glaube sein.

Ibn Arabi (1165 – 1240), mystischer Dichter des Islam

Zitat: Viele Menschen verlieren sich in spirituellen Erfahrungen und Beobachtungen und allen möglichen interessanten, subtilen Eindrücken, von denen manche bestimmt aufregend und erhebend sein können. Aber es gibt nichts Besseres als die Einfachheit, man selbst sein zu können – in sich selbst zentriert zu sein, zu erkennen, wer man ist und das Gefühl der Vertrautheit und der Wirklichkeit darin zu verspüren. Die ganze innere Reise, die gesamte psycho-spirituelle Praxis hat im Grunde nur ein einziges Ziel: wirklich diejenigen zu sein, die wir sind.

Ali Hameed Almaas, Begründer des Diamant Approach

Wirkliche integrale Orientierung

Wenn man hohe geistige Zustände erfahren hat, sollten diese immer auch um die Einsicht ergänzt werden, dass man auch auf den anderen Ebenen und Stufen arbeiten sollte (Psychotherapie, Sport, Ernährung, Beziehungen, Lebensunterhalt).
Denn Menschen sprechen viel eher auf gesunde, kongruente Botschaften an, die sie dort “abholen”, wo sie sind, als auf höhere Botschaften, die durch Neurosen und Brüche auf den unteren Ebenen entstellt sind.
Für ein offenes integrales Denken gehören Körper, Geist und Seele untrennbar zusammen. Das heißt auch, sich an den Platz im eigenen Leben zu stellen, an dem man steht, mit all seinen Eigenschaften, seiner Geschichte, seinem Sosein, wie es sich anfühlt, in dieser Zeit, auf diesem Planeten, in dieser Familie, in dieser Kultur geboren zu sein und als Mensch in dieser Form zu leben. Dann erst verbinden sich die unterschiedlichen Perspektiven  „Ich“ (Bewusstsein), „Wir“ (Kultur) und „Es“ (Wissenschaft) zu einer ganzheitlich-vernetzten integralen Sichtweise.

Allerdings sollten wir aufpassen, dass dieses spirituelle mit sich selbst in Kontakt kommen nicht unbeabsichtigt dazu beiträgt, uns z.B. von den emotionalen Auswirkungen der Klimaproblematik so weit zu distanzieren, dass wir die reine Subjektivität der materiellen Realität vorziehen. Denn was gerade in der Welt passiert, ist nicht nur ein privates Problem – es ist ein kollektives. Hierfür brauchen wir ein integrales Bewusstsein.

Wir müssen also unseren Humanismus, unsere Psychologie, unsere Spiritualität, das Heilige oder wie immer wir es nennen mögen, vertiefen bis weit in den kollektiven Schatten hinein, um uns und die Welt bestmöglich transformativ zu begleiten.


Graffiti in Berlin-Kreuzberg (2014):

Wer nur sich selbst verändert, ist ein Träumer,
wer nur das Außen verändert und nicht sich selbst, ist ein Heuchler.